31
Das Erste, was Bobby Vasquez auffiel, als Sheriff Mills ihn in das lange, schmale Verhörzimmer führte, war die Hand. Man hatte ihr die Fingerabdrücke abgenommen, sie dann gereinigt und in ein großes Glas mit einem Konservierungsmittel gelegt, das der Haut einen gelblichen Ton verlieh. Das Glas stand vor Fred Scofield am anderen Ende des langen Tisches. Der Staatsanwalt war in Hemdsärmeln, er hatte den Kragen aufgeknöpft und die Krawatte gelockert. Es war warm in dem Zimmer, aber Detective McCarthy trug noch immer seine Anzugjacke, und seine Krawatte saß straff. Rechts von McCarthy saß ein Mann namens Ron Hutchins von der Inneren Abteilung, der angezogen war wie ein Leichenbestatter und ein Ziegenbärtchen trug. Sheriff Mills war in Uniform.
Scofield deutete auf die Hand. »Was halten Sie davon, Bobby?«
»Hässliches Ding«, erwiderte Vasquez. »Wem gehört die?«
»Wissen Sie das nicht?«, fragte Scofield.
»Was soll das sein, ein Ratespiel?«
»Setzen Sie sich, Bobby!«, sagte McCarthy freundlich und ohne Drohung.
Vasquez lümmelte sich auf einen leeren Stuhl. Der Sheriff war von Hutchins Schultern halb verborgen. Alle saßen ihm gegenüber und starrten ihn an. Theoretisch sollte er sich jetzt überwältigt fühlen, aber er fühlte überhaupt nichts.
»Wie geht's?«, fragte McCarthy mit echter Anteilnahme.
»So, wie's jemandem geht, dessen Karriere ruiniert ist und dem Bankrott und Gefängnis drohen«, erwiderte Vasquez mit resigniertem Lächeln.
Der Detective erwiderte das Lächeln. »Freut mich, dass Sie wenigstens Ihren Humor nicht verloren haben.«
»Das Einzige, was mir noch gehört, amigo.«
»Wo ist Ihr Anwalt?«
»Der rechnet pro Stunde ab, und ich brauche ihn nicht. Ich weiß selbst, wie ich von meinem Recht auf Zeugnisverweigerung Gebrauch machen kann.«
»Na gut«, sagte Scofield.
»Wollen Sie was zu trinken?«, fragte Sean McCarthy. »Coke, eine Tasse Kaffee?«
Vasquez lachte. »Und wer spielt den bösen Bullen?«
McCarthy grinste. »Es gibt keinen bösen Bullen, Bobby. Außerdem, wie sollen wir Sie denn hereinlegen? Sie kennen doch alle Tricks.«
»Ich bin nicht durstig.« Vasquez wandte sich wieder dem Glas zu. »Sie haben mir noch immer nicht gesagt, wem die gehört.«
»Das ist die rechte Hand des Dr. Cardoni«, sagte McCarthy und achtete genau auf Vasquez' Reaktion. »Wir haben sie im Untergeschoss der Hütte in Milton County gefunden.«
»Im Ernst?«
McCarthy hielt Vasquez' Überraschung für echt.
»Dr. Tod persönlich«, sagte Scofield. »Die Abdrücke stimmen überein.«
»Wo ist der Rest von ihm?«
»Das wissen wir nicht.«
»Ausgleichende Gerechtigkeit.“
»Ich nenne es kaltblütigen Mord«, erwiderte Scofield. »Hier herrscht das Gesetz, Bobby. Die Schuld wird von einem Gericht festgestellt. Wissen Sie noch, mit Geschworenen und dem ganzen Schmarrn?«
»Sie denken, dass ich das war?«, fragte Vasquez und deutete auf das Glas mit dem grausigen Inhalt.
»Sie sind ein Verdächtiger«, antwortete Sean McCarthy.
»Wollen Sie mir vielleicht erzählen, wieso?«, fragte Vasquez. Er lehnte sich zurück und versuchte, entspannt auszusehen, aber McCarthy erkannte die Anspannung an Hals und Schultern.
»Sie waren ganz versessen auf Cardoni. Sie haben sich Ihre Karriere ruiniert, nur um ihn zu kriegen. Dann hat Prochaska Sie bloßgestellt, und Cardoni war ein freier Mann.«
»Was? Ich bringe jeden um, der mir durch die Lappen geht?«
»Sie waren so scharf auf diesen Kerl, dass Sie in sein Haus eingebrochen sind und unter Eid gelogen haben.«
Vasquez senkte den Kopf. »Es tut mir nicht Leid, dass Cardoni tot ist, und es tut mir nicht Leid, dass er zerstückelt wurde. Ich hoffe, dieser perverse Hurensohn hat gelitten. Aber ich würde es nicht so machen, Sean. Ohne Folter.«
»Wo waren Sie Donnerstagnacht und Freitagmorgen?«
»Zu Hause, und zwar alleine. Und nein, ich habe niemanden, der mir ein Alibi verschaffen kann. Und ja, ich hätte zu der Hütte fahren, Cardoni umbringen und zurückkehren können, ohne dass es jemand merkt.«
McCarthy musterte Vasquez eingehend. Er hatte die Mittel, ein Motiv und die Möglichkeit, so wie es in den Krimis immer heißt, aber würde Vasquez einem Mann aus Rache die Hand absägen? Bei dieser Frage war McCarthy unentschlossen. Und wenn sie sich nicht entscheiden konnten, waren sie wieder genau da, wo sie angefangen hatten: bei Verdächtigen, aber ohne Gründe für eine Verhaftung. Art Prochaska leugnete, den Arzt ermordet zu haben, und hatte sogar ein Alibi. Prochaskas Anwalt hatte eine Liste mit fünf Zeugen gefaxt, die schwören konnten, dass sie von Donnerstag sechs Uhr nachmittags bis Freitag vier Uhr morgens mit Prochaska gepokert hatten. Das Problematische mit dem Alibi war nur, dass alle fünf Zeugen für Martin Breach arbeiteten.
»Wie lautet Ihre nächste Frage?«, wollte Vasquez wissen.
»Im Augenblick haben wir keine mehr«, entgegnete Scofield.
»Dann möchte ich Ihnen eine stellen. Warum sind Sie so sicher, dass Cardoni tot ist?«
McCarthy legte den Kopf schief, und Scofield und Mills wechselten einen Blick.
Vasquez betrachtete die Hand. »Sie wollen doch eine Neuverhandlung des Antrags auf Nichtzulassung erreichen, nicht, Fred?«
Scofield nickte.
»Wie stehen die Chancen, dass Richter Brody Ihrem Antrag stattgeben und seine Nichtzulassungsentscheidung revidieren wird?«
»Fünfzig zu fünfzig.«
»Wenn Sie gewinnen, kommt Cardoni wieder ins Gefängnis. Wie stehen Ihre Chancen bei der Hauptverhandlung?«
»Wenn ich in der Hauptverhandlung das vorlegen kann, was wir in der Hütte und in seinem Haus in Portland gefunden haben, schicke ich ihn in die Todeszelle.«
Vasquez nickte. »Es geht das Gerücht, dass Martin Breach ein Kopfgeld auf Cardoni ausgesetzt hat, weil er glaubt, Cardoni sei Clifford Grants Partner gewesen und habe ihn bei der Übergabe am Flughafen gelinkt.«
»Wir kennen das Gerücht. Worauf wollen Sie hinaus?«
»Kann ein Chirurg sich selbst eine Hand amputieren?«, fragte Vasquez.
»Was?«, rief Sheriff Mills.
»Sie glauben, dass Cardoni sich die Hand selber abgeschnitten hat?«, fragte McCarthy in derselben Sekunde.
»Einer der unbarmherzigsten Hurensöhne, die ich kenne, hat ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt. Wenn er Breachs Killern entkommt, erwartet ihn die Todeszelle. Sowohl das Gesetz wie auch Martin Breach hören nur auf nach ihm zu suchen, wenn sie glauben, dass er tot ist.«
»Das ist doch lächerlich!«, sagte Mills.
»Ist es das wirklich, Sheriff?« Vasquez hielt inne und schaute noch einmal die Hand an. »Es gibt Tiere, die nagen sich die eigene Pfote ab, nur um aus einer Falle zu entkommen. Denken Sie mal darüber nach!“